Wenn einmal der Wurm drin ist

Es gibt Zeiten, da läuft so einiges nicht optimal. Und genau in diesen Zeiten kommt immer noch eines obendrauf. Dann ist ein Punkt erreicht, an dem man sich denkt: Einfach nicht mehr bewegen und diese Phase vorüber gehen lassen.

Schon Anfang letzter Woche kündigte sich bei uns diese Phase an. Jürgen wird die (versprochene) interne Fortbildung von seinem neuen Arbeitgeber nicht bekommen – und es läge nicht an ihm. Das wirbelte unsere Pläne ziemlich durcheinander, denn diese Fortbildung bedeutete auch für uns „mehr Geld“, das wir dringend benötigen. An dieser Stelle ist zu erwähnen, dass die derzeitige Bezahlung bei seinem neuen Arbeitgeber mehr als unterirdisch, ja fast schon fragwürdig, ist. Nach erneuten Verhandlungen mit seinen Chefs kommt mehr Gehalt nicht wirklich infrage. Das bedeutet also, wir brauchen einen Plan B.

Unsere neuen Bedingungen „im Osten“ zeigen nun auch ihre Auswirkungen. Unsere Ersparnisse sind nun weitestgehend aufgebracht. Wir bauen jetzt nur, wenn Geld da ist. Oft beobachtet man ja Baustellen und angefangene Häuser, die sich nur langsam bewegen, eben dann, wenn „das Geld da“ ist. Faszinierend habe ich immer die Ausdauer dieser Häuslebauer bewundert. Wer hätte das gedacht, dass wir auch mal diesen Prozess durchmachen. Nur ist mit dem „Ostgehalt“ am Ende nicht viel übrig. Nach allen monatlichen Abzügen stellen wir fest, dass wir hier unterm Strich bei weitem weniger haben als in München. Entgegen der herrschenden Meinung, der Osten sei in den Lebenshaltungskosten günstiger und zudem zahlen wir ja keine Miete … nein! Der Osten hier ist teurer! Wasser und Energie, teurer – trotz Windmühlen vor der Haustür. Essen und Benzin ist nicht günstiger, Dienstleistungen halten dicke mit Münchner Preisen mit. Durchschnittlich 20% weniger Gehalt schlägt ebenfalls zu.

Und nein, es ist nicht nur meine Meinung. Wir hatten in den letzten Wochen das Glück, andere Eltern kennenzulernen. Es sind ebenfalls „Rückkehrer“. Sie kommen aus den alten Bundesländern zurück und wundern sich ebenso über die Preise hier, die in keiner Relation zu den „Ostgehältern“ stehen.

Doch, was uns am meisten wundert, die wenigsten Einheimischen thematisieren diese Ungerechtigkeit. Man muss sich das mal auf der Zunge zergehen lassen: Die Menschen hier erbringen die gleiche Arbeitsleistung und verdienen weniger, nur weil sie in den neuen Bundesländern leben! Viele arrangieren sich mit dieser Tatsache und nehmen es hin. Und wenn man hinhört, hat auch jeder für sich seinen Grund dafür: Für den einen gibt’s keinen anderen Arbeitgeber in der Nähe, oder er mag sich nicht umgewöhnen, der andere wird doch nach (Ost-)Tarif bezahlt und hat einen sicheren Arbeitsplatz, wieder der andere hat auch die Kita in der Nähe oder ist froh, überhaupt einen Job zu haben. Auch wir hatten eben unsere Gründe als Jürgen diesen Arbeitsvertrag unterschrieb und hofften auf das beste.

Ich bin ein Mensch, der soziale Ungerechtigkeiten angehen möchte. Doch ist es mir rätselhaft, was man dagegen tun soll. Nicht jeder Arbeitgeber hier kann bessere Löhne zahlen, doch es gibt auch die anderen, die das niedrige Lohnniveau für sich ausnutzen … Doch wenn wir auch noch persönlich betroffen sind, finde ich es nicht nur sozial ungerecht, sondern auch unerträglich. Ein wirklich frustrierender Zustand.

Die meisten Unfälle passieren im Haushalt

In dieser Zeit also, in der ich damit beschäftigt war, über unsere Zukunft zu grübeln, perfektionierte ich die Pechsträhne. Montag Morgen goss ich mir kochend heißes Kaffeewasser über Brust und Bauch. Wenn einmal der Wurm drin ist, dann richtig.

So machte ich meine Erfahrung mit dem Gesundheitssystem in Mecklenburg-Vorpommern. Montag morgen, 8 Uhr, ein Fall für die Notfallaufnahme im Doberaner Krankenhaus zu sein, ist nicht so prickelnd. Knapp eine Stunde wartete ich auf einen Arzt. Nicht wirklich vertrauenserweckend, wenn doch mal was schlimmeres sein sollte. Das Personal allerdings war super nett und fürsorglich.

Übrigens sind die Kraniche wieder unterwegs. Ein faszinierendes Spektakel am Himmel.

Natürlich konnte mir der Krankenhausarzt keine Medikamente etc. aufschreiben. So wurde ich notdürftig wie eine Mumie eingewickelt und marschierte zum neu ernannten Hausarzt. Trotz eines überfüllten Warteraums wurde ich ins „Labor“ geschleust, wo ein junger Arzt und eine Sprechstundenhilfe meine riesige Brandwunde begutachtete. Es wurden die letzten für Brandwunden tauglichen Pflaster und Verbände heraus geholt. Dafür, dass dort eine solche Wundversorgung nicht so oft vorkommt, bin ich allein schon von dem Engagement begeistert. Mit Hingabe und Feingefühl wird nun jeden zweiten Tag mein Verband gewechselt.

So einen dämlichen Unfall braucht man wirklich nicht. So gehandicapt in meiner Bewegung fühlte ich mich das letzte Mal im hochschwangeren Zustand. Völlig überfordert mit der derzeitigen Situation, rief ich tatsächlich nach Hilfe in Richtung Mama. Ein Segen, dass nur noch 100 km zwischen uns liegen und Corona das Arbeiten im Homeoffice möglich machte. Mit Mamas Unterstützung heilt zwar die Wunde nicht schneller, doch Essen kochen und Kind betreuen lassen entlastet ungemein.

Übrigens kommt das Sprichwort „der Wurm ist drin“ daher, dass seit frühester Zeit die kriechende Art der Fortbewegung dem Menschen am unheimlichsten ist. Der Wurm (das sich Windende) als alter Gattungsname, erstreckt sich auf Würmer, Maden und Käfern, Reptilien und Drachen (Lindwurm). Der gefürchtetste Wurm ist die Schlange, das Sinnbild des Teufels, aber auch die kleineren Würmer werden mit krankheitsdämonischen Vorstellungen belegt, die wohl universal sind. Die Volksmedizin des Mittelalters kannte unzählige derartige „Würmer“: den Herzwurm, den Hirnwurm, den Blutwurm, u.v.m. Deutungen beziehen sich bei der Redensart auf das Obst, das ungenießbar wird, wenn sie Würmer enthalten, oder auf den Holzwurm, der den Dachstuhl (oder bei uns das Treppengeländer) langsam zerstört.

Mecklenburg-Vorpommern wählt rot

Mein Plan ist nun, mich ganz ruhig zu verhalten. Dem Wurm so wenig wie möglich Angriffsfläche geben. Aus Erfahrung weiß ich, dass man manchmal Dinge aussitzen muss. Also: Nicht bewegen und warten, bis es vorbei ist. Schließlich steht schon einiges im Hintergrund auf Neustart (dazu aber in einem späteren Blogbeitrag) und ich bin nicht der Typ, der sich so einem Wurm geschlagen gibt.

Und politischen Neustart gab’s heute nicht nur auf Bundeseben, sondern auch in Mecklenburg-Vorpommern wurde der Landtag neu gewählt.

Vorläufiges Ergebnis in MV

Überraschend doch zugleich vorhersehbar. Seit ich immer mehr in Kontakt mit Einheimischen komme, und deren Sorgen und Nöte wahrnehme, wundert es mich nicht wirklich, dass die AfD zweitgrößte Macht wurde. Gerade jetzt zeigt sich, wie z.B. der Lockdown dem „kleinen Manne“ und den Kindern hier zusetzte. Aber auch eine Abneigung gegen eine starke Grünenpolitik verwundet mich in einem Flächenland, das so viele Einwohner wie München hat und in dem 95% aller Beschäftigten Pendler sind (und davon sind nur 5% mit der Bahn unterwegs, der Rest muss Auto fahren), nicht wirklich. Und am Stammtisch wird dabei nicht vom Urlaub machen gesprochen, sondern von realen Existenznöten. Das ist die andere Seite von Doberan, die ich nun mehr und mehr kennenlerne.

Das älteste Kloster in Mecklenburg

Im Übrigen sind wir keine Klima-Retter-Gegner. In München war ich überzeugte Bahnfahrerin, weil es dort auch ging. Und hier achten wir auch darauf, dass wir das bissel Fleisch beim Metzger kaufen, nicht zu viel Wasser verbrauchen, keinen unnötigen Müll produzieren und für kleine Strecken das Auto nicht nehmen. Wir radeln, so viel es geht.

So waren wir auch am letzten Tag, bevor uns der Wurm erfasste, auch mitm Radl unterwegs. Am Tag des offenen Denkmals schauten wir uns das ursprüngliche Kloster, also den Vorgänger des Doberaner Münsters, an: Die Kapelle in Althof, sehr idyllisch am Stadtrand von Bad Doberan gelegen, nahe dem Hütter Whold im Buchenwald, gilt als das allererste Kloster in Mecklenburg. Gegründet vom bekehrten Fürst Pribislav emfing das Kloster 1171 12 Zisterzienser-Mönche, 25 Laienbrüder und einen Abt aus dem niedersächsischen Amelungsborn. Die Klostergrüdnung bedeutete für die unbesiedelte und unkultivierte Gegend einen wirtschaftlichen Aufschwung. Ein Glück über diesen Fakt, denn dadurch erhielt es Fördergelder aus europäischen, Bundes- und Landestöpfen. Am Rande erwähnt: Fürst Pribislav wurde von seiner Frau Woizlawa unterstützt, also eigentlich hatte sie das Sagen und brachte diese Region voran. Hinter jedem erfolgreichen Mann steckt also doch immer eine starke Frau. Althof ist eine kleine Idylle mit bewegter Vergangenheit: Kloster, Lagerraum und Bäckereistube … viele Nutzungsmöglichkeiten gab es.

Solltet ihr mal ihr in dieser Gegend Urlaub machen, dieses Kleinod solltet ihr euch anschauen!

Und wenn es nicht besser wird, Waldbaden hilft und die Buchenwälder beruhigen die Seele.

5 Gedanken zu “Wenn einmal der Wurm drin ist

  1. Gute Besserung, Ly. Ich lese es dummerweise erst eine Woche später. Ist die Brandwunde vielleicht schon wieder gut? Der Wurm hat sich ausgetobt für diese Saison, nun hält er wieder ein Jahr lang Winterschlaf. Ich drücke jedenfalls die Daumen! 🙂

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    1. Vielen Dank! Ich war nun zwei Wochen krank geschrieben und es verheilt langsam recht gut. Die Bewegung ist noch immer recht eingeschränkt, aber es wird besser. Ich bin sehr zuversichtlich, dass der Wurm nicht nur in den Winterschlaf geht, sondern den auch verschläfgt.

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